Michael Miebach: "Digitale Fragmentierung bedroht den rasanten Innovationsfortschritt"
15. Januar 2024 | By Michael Miebach- Die weltweite Digitalisierung und Vernetzung schreitet schnell voran. Immer mehr Daten werden nahtlos und sicher über geografische Grenzen hinweg übertragen.
- Die sogenannte digitale Fragmentierung bedroht jedoch diese Entwicklung. Sie stellt eine wirtschaftliche Herausforderung sowie ein Hindernis für Cybersicherheits- und KI-Standards dar.
- Die Vermeidung einer digitalen Fragmentierung würde es uns ermöglichen, KI besser zu regulieren und uns vor Cyberbedrohungen zu schützen.
Auf dem Höhepunkt der COVID-19-Pandemie brachen große Teile der globalen Lieferkette zusammen: Störungen und Engpässe führten zu einer Kette von Problemen in der Weltwirtschaft. Gleichzeitig wuchs der digitale Handel – mit grenzüberschreitenden Datenströmen, E-Commerce und Videostreaming – weiter, als gäbe es keine Gesundheitskrise.
Trotz großer Herausforderungen wie Pandemien, Kriegen, Inflation und einem wachsenden Nationalismus zeigt uns diese Dynamik, dass wir immer stärker miteinander vernetzt sind. Ein anschauliches Beispiel: Zwischen 2010 und 2019 nahmen Datenströme zwischen Ländern jährlich um 45 Prozent zu: von rund 45 auf 1.500 Terabit pro Sekunde. Im Jahr 2021 erreichten die globalen Datenströme fast 3.000 Terabit pro Sekunde.
Dieser Trend wird sich noch verstärken. 5G, Hybrid Cloud und Künstliche Intelligenz (KI) werden sicherlich noch mehr grenzüberschreitenden Datenverkehr erzeugen. Dieser sichere und freie Datenfluss wird neue Innovationen freisetzen und das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Aber auch sicherstellen, dass Milliarden von Menschen und Unternehmen Zugang zu Informationen und Gütern haben, die sie benötigen.
Digitale Fragmentierung gefährdet den Fortschritt
Diese vielversprechende Zukunft könnte jedoch durch die digitale Fragmentierung eingeschränkt werden. Und zwar, wenn verschiedene Länder und Unternehmen technologische Standards entwickeln, die nicht miteinander kompatibel sind.
Wir haben eine Fragmentierung bei Hardware und Plattformen für Telekommunikationsnetzwerke, Ladestationen für Elektrofahrzeuge, intelligente Haushaltsgeräte und vieles mehr beobachtet. Diese Fragmentierung kann Barrieren zwischen den Märkten schaffen. Sie kann den Handel verlangsamen. Sie kann Menschen und kleinen Unternehmen den Zugang zur digitalen Wirtschaft erschweren und die Bemühungen um Cybersicherheit behindern.
Dabei haben wir während der Pandemie gesehen: Eine eng vernetzte digitale Wirtschaft stärkt die internationale Widerstandsfähigkeit, indem sie Menschen miteinander verbindet und den Handel am Laufen hält. Für diese Bemühungen ist es von entscheidender Bedeutung, gemeinsame Standards in zwei Schlüsselbereichen festzulegen: KI und Cybersicherheit.
KI-Regulierung beruht auf Zusammenarbeit
Im November 2023 fand auf Einladung der britischen Regierung ein KI-Gipfel statt. Informatiker:innen, Regierungsbeamt:innen und Vertreter:innen großer Unternehmen beteiligten sich daran. Mehr als zwei Dutzend Länder unterzeichneten die „Bletchley-Erklärung“, in der sie sich zur Zusammenarbeit im Bereich der KI-Sicherheit verpflichteten.
Dieser Gipfel und weitere, die bereits geplant sind, zeigen, wie wichtig es ist, den Dialog über sich schnell entwickelnde Technologien wie KI aufrechtzuerhalten.
Aktuell entwickeln viele Länder und Unternehmen in unterschiedlichem Tempo KI-Standards. Aber nur sehr wenige arbeiten koordiniert miteinander. Es besteht wenig Einigkeit über die wichtigsten Definitionen und Anforderungen an KI-Standards, einschließlich der Definition von KI selbst.
Wir müssen KI-Standards und -Richtlinien schaffen, die ein Gleichgewicht zwischen Kreativität und Innovation einerseits und dem Schutz vor wahrscheinlichen und erheblichen Risiken andererseits herstellen: zum Beispiel systemische Verzerrungen und KI-gestützter Betrug. Diese Standards müssen auf einem prinzipienbasierten Ansatz beruhen, der sich auf Datenschutz, Verantwortlichkeit, Fairness und Transparenz konzentriert.
Zu den bisherigen positiven Bemühungen zählen die jüngste Einigung der Europäischen Union auf ein KI-Gesetz (AI Act), das die Entwicklung vertrauenswürdiger KI in der EU fördern soll sowie neue Schutzmaßnahmen der kanadischen Datenschutzbehörden und eine Executive Order des Weißen Hauses in den USA.
Wie wir auf dem Bletchley-Gipfel gesehen haben, wird eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor uns allen helfen, in diesen Bereichen Fortschritte zu erzielen.
Cybersicherheitsrisiken in einer fragmentierten Welt
Der zunehmende Trend zu Nationalismus und Protektionismus schränkt den freien Datenverkehr über Grenzen hinweg und weltweit ein. Es ist nachvollziehbar, dass viele Regierungen ein Interesse daran haben, die Daten ihres Landes und ihrer Bürger:innen zu schützen. Wenn wir jedoch die Zusammenarbeit ausschließen und den Daten zu viele Beschränkungen auferlegen, dann behindern wir Tools zur globalen Betrugsüberwachung. Diese funktionieren am besten, wenn Datensätze aus verschiedenen Ländern verwendet werden.
In vielerlei Hinsicht erleichtert die digitale Fragmentierung die Arbeit von Cyberkriminellen. Sie ermöglicht ihnen, über nationale Grenzen hinweg zu operieren und die Komplexität getrennter Technologie- und Datenstandards sowie -systemen auszunutzen.
Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Cyberkriminalität global ist. Daher muss auch unsere Antwort global sein. Die besten Ergebnisse werden durch kollektive Verteidigung erzielt: Partnerschaften, Best Practices und auch gemeinsame Standards. Wir sind am besten geschützt, wenn wir uns gegenseitig schützen.
Die digitale Wirtschaft war während der Pandemie von unschätzbarem Wert. Sie wird in Zukunft noch wichtiger werden, da Technologie einen immer größeren Teil unseres Lebens einnimmt. Deshalb ist es so wichtig, der digitalen Fragmentierung entgegenzuwirken. Wenn wir gemeinsam und partnerschaftlich, werden wir konkrete Verbesserungen erreichen. So erhalten mehr Menschen und kleine Unternehmen Zugang zum großen Potenzial der digitalen Wirtschaft.
Dieser Artikel ist eine Übersetzung von einem Gastbeitrag von Michael Miebach, CEO bei Mastercard, für das Weltwirtschaftsforum: “The pace of innovation is speeding up. Digital fragmentation threatens that”.